Maulkorb?

Ja, meine Jessy läuft regelmäßig mit Maulkorb herum. Auch zu Hause, wenn alles ein wenig eng ist oder es irgendwelche Streitpunkte (Futter, Spielzeug) geben könnte. Natürlich schaue ich zu, dass ich ihr den Maulkorb so wenig wie möglich anlege. Und natürlich trainiere ich immer weiter. Es hat sich auch unheimlich viel getan, vieles ist gar kein Thema mehr. Aber manches wird (höchst-wahrscheinlich) immer ein Thema bleiben...

 

Wenn ich mich wegen dem Maulkorb schlecht fühle, dann nicht wegen Jessy. Jessy ist mit Maulkorb entspannter, auch weil ihre Umgebung entspannter sein kann. Sie kann mit dem Maulkorb perfekt atmen, sie kann trinken, sie kann sogar Spielzeug damit zerlegen. Und vor allem, sie kann in einer Familie leben. Mit anderen Menschen zusammen sein. Mit anderen Hunden zusammen sein. Sie kann Besuch empfangen, Begegnungen haben, soziale Kontakte pflegen, teilnehmen, dabei sein. Nicht weggesperrt sein, nicht alleine sein, nicht ständig unter strengster Aufsicht sein. Jessy sein.

 

Wenn ich mich wegen dem Maulkorb mal schlecht fühle, dann wegen manchen Mitmenschen.

Weil ich mich immer wieder genötigt fühle, den Maulkorb zu erklären, zu rechtfertigen. Weil ich spüre, wie manche Mitmenschen verurteilen, auch ohne beurteilen zu können. Man trainiere wohl nicht genug. Man würde das selber wohl besser hinkriegen. Für mich der schlimmste Satz überhaupt: „Mei, der arme Hund“.

 

Ich habe Jessy mit vier Jahren kennen gelernt. Sie hatte gerade einen Autounfall gehabt, war schwer verletzt, operiert, die Wunde hatte sich entzündet, sie hatte starke Schmerzen. Der Tierschutz hatte sie übernommen und ich habe angefangen sie ehrenamtlich physiotherapeutisch zu betreuen. Anfangs hat sie bei jeder Bewegung, bei jeder Berührung nur geschrien. Ich werde die erste „Gangbildanalyse“ nie vergessen. Es hat gedauert und es war ein langer weg, aber Jessy ist schmerzfrei, bewegungsfähig und voller Lebensfreude. Manchmal hatte sie dabei einen Blick in den Augen, der mich verunsicherte. Sie hat aber wohl immer gewusst, dass ich es gut mit ihr meine und mir ist nie etwas passiert.

 

Mir nicht.

 

Andere Menschen in ihrer Vergangenheit haben es nicht so gut mit ihr gemeint. Jessy hatte gelernt, dass man sehr deutlich sein muss, damit die Menschen verstehen. Dass man besser selber zulangt, bevor die Hand oder der Fuß ihr weh tut. Langsam hat sie in ihrem neuen Leben gelernt, dass es auch anders geht. Dass es doch Menschen gibt, die Vorwarnungen verstehen, die auf Beschwichtigungssignale reagieren, die nicht meinen, ein Hund müsse sich alles gefallen lassen. Jedem einzelnen dieser Menschen bin ich sehr dankbar.

 

Auch von anderen Hunden lässt sich Jessy nicht alles gefallen. Wer Ärger sucht, kann Ärger kriegen. Inzwischen weicht sie solche Situationen selber aus oder lässt sich raus holen. Faszinierend ist es, wenn ich sie freigebe, weil ich meine, es würde passen. Sie aber selber sagt, „Nee Mama, lassen wir lieber mal“, und bei mir bleibt. Sie weiß inzwischen auch, dass ihr in meiner Obhut nichts passiert. Eins meiner Lieblingssätze: „Es kann ja doch nichts passieren, die hat doch einen Maulkorb an“. Nein, auch wenn sie Maulkorb trägt, sie muss sich deswegen nicht alles gefallen lassen.

Jessy ist kein Hund, der irgendwo einfach reinpasst. Und auch in mein Leben passt sie nicht einfach rein. Sie wurde einige male vermittelt. Sie sieht lieb aus, fordert Streicheleinheiten ein, verlangt Aufmerksamkeit, ist sehr menschenorientiert. Manche meinen, sie sei doch ein Labi oder Labrador-Mix und könnte doch gar nicht „problematisch“ sein. Jedes mal wurde sie wieder zurückgegeben. Als es ihr dann mit dem Beinchen mal sehr schlecht ging und ich über Einschläfern nachgedacht habe, haben wir entschieden, dass sie die „restliche Zeit“ bei uns verbringen kann. Das war 2012. Seitdem geben wir unser Bestes, das Leben so frei und gleichzeitig ungefährlich wie möglich zu gestalten. Und wer uns wirklich kennt, der weiß, dass wir einen guten Job machen. Ich bin stolz auf meine Jessy, ich bin stolz auf mich, auf den Rest der Rasselbande, auf meine Familie und meine Freunde!

 

Maulkorb? Für Jessy Schlüssel zur Freiheit!

Juni 2015